All inclusive-Urlaub vom Patriarchat-Feminismus-Kolumne-THE DISTRIQT

GESTÄNDNISSE EINER VERKLEMMTEN

Text: Mali-Janice Paede


Kinky Partys, Toys und Sex in der Öffentlichkeit – für viele gehört das 2023 zum Alltag. Unsere Autorin Mali ist davon eher abgeschreckt. An sich kein Problem. Wäre da nur nicht ihre Angst, aus Prüderie die feministische Pflicht zur Befreiung der weiblichen Sexualität zu vernachlässigen.

Der Vorhang öffnet sich. Drei Emanzen betreten die Bühne.

Emanze 1: Guckt ihr eigentlich zusammen mit euren Partnern Pornos?
Emanze 2: Klar! Alle in meinem Freundeskreis machen das.
Emanze 3: Ähhh…
Emanze 1: Ich möchte das auch. Nur stelle ich mir die Filmauswahl schwierig vor.
Emanze 2: Ach weißt du, spätestens nach fünf Minuten seid ihr eh am vögeln.
Emanze 3: Oh…

Abgang Emanze 1 und Emanze 2. Emanze 3 bleibt allein, stumm und derangiert zurück.

Falls ihr euch jetzt wundert, was mit Emanze 3 – der alten Spießerin – falsch ist: Ich weiß es nicht. Was in gewisser Weise dramatisch ist. Denn ich bin Emanze 3. Und ich frage mich: Darf ich als moderne Feministin eigentlich sexuell verklemmt sein?

Shit, ich bin prüde

Ich bin fast 30 und habe mich nie als prüde empfunden. Seit einiger Zeit aber wächst in mir der Verdacht, dass ich es vielleicht doch bin. Zumindest im Vergleich zu meinem engen Bekanntenkreis. Während die Frauen um mich herum den fünften Vibrator shoppen, Kinky-Partys besuchen und auf öffentlichen Parkplätzen Fellatio betreiben, werde ich bereits rot, wenn meine beste Freundin fragt, ob ich eigentlich masturbiere.

Weibliche Lust wurde lange unterdrückt

Dass wir in Europa und den USA so liberal und offen mit weiblicher Sexualität umgehen, ist übrigens relativ neu. Kirche, Staat und Medizin zwangen Frauen noch bis weit ins letzte Jahrhundert, sich maximal züchtig zu verhalten. Weibliche Sexualität wurde als unnatürlich degradiert und gezielt unterdrückt. Frauen, die offen Lust empfanden oder gar auslebten, galten als gefährlich und krank. Im Mittelalter landeten sie als Hexen auf dem Scheiterhaufen, am Ende des 19. Jahrhunderts als Patientinnen auf dem OP-Tisch. Auf Ersterem starben sie. Auf Letzterem wurden ihnen ihre Geschlechtsorgane (teil-) amputiert.

Erst die Feminist*innen der 1960er und 70er Jahre holten die menschliche Sexualität im Allgemeinen und die weibliche im Speziellen aus ihrem patriarchalen Verließ. Seitdem mausert sich Sex zunehmend vom Tabu- zum Trendthema. Und nun, im Jahr 2023, sollen Frauen jegliche Hemmungen und Hüllen fallen lassen. Ich feiere alle Geschlechtsgenossinnen, die diese Chance ergreifen und sich ausleben. Ich persönlich jedoch hänge an meinen Hemmungen.

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Im Laufe der Jahrhunderte wandelte sich die gesellschaftliche Sicht auf die weibliche Sexualität. Lest mehr dazu auf unserem Instagram-Kanal. Klickt dafür einfach auf's Bild.

Eine Schande für den Feminismus?

Nun denkt sich vielleicht die*der ein oder andere: „Meine Fresse, soll sie doch verklemmt sein. Wo ist ihr Problem?“ Mein Problem ist, dass ich fürchte, meine feministische Pflicht zur endgültigen Normalisierung und Befreiung der weiblichen Sexualität durch meine Prüderie zu vernachlässigen. Sollte ich als überzeugte sexpositive Feministin nicht auf kamelgroßen Dildos durch die Welt galoppieren und über den Wert der Polygamie referieren? Denn: Was ist die Freiheit wert, wenn ich sie nicht auskoste? Wofür haben all die Feminist*innen gekämpft, wenn ich von den gewonnenen Optionen keinen Gebrauch mache?

Ganz zu schweigen davon, dass all die wilden Stories aus Bekanntenkreis und Medien mich massiv unter Druck setzten, nun endlich die sich bietenden Möglichkeiten auch zu nutzen. Doch statt nackig von Swingerclub zu Swingerclub tanzen, mache ich es mir im Bett und meiner monogamen, heterosexuellen Beziehung gemütlich – und zwar ganz ohne Toys, Zuschauer*innen oder gemeinsames „Porn and Chill“. Eine Schande! Oder?

Die Gesellschaft formt unser Sexualleben

Die wirkliche Schande ist doch, dass Gesellschaft und Medien auch heute noch immer zu großen Teilen bestimmen, wie wir unser (Sex-)Leben gestalten sollen – und dass wir uns diesen Forderung häufig fügen. Unbewusst und unhinterfragt. „Auch die privilegierten, klugen, reflektierten jungen Frauen handeln häufig genauso, wie es von ihrer Peergroup, besonders aber vom ‚super peer‘ Medien vorgegeben wird“, schreibt die Sexualpsychologin Sandra Konrad dazu in ihrem Buch ‚Das beherrschte Geschlecht – Warum sie will, was er will‘.

Früher führten die gesellschaftlichen Ansprüche dazu, dass Frauen sich die eigene Sexualität absprachen. Heute sorgen neue Normen dafür, dass wir nicht nur sexuell aktiv und experimentierfreudig sein müssen, sondern auch von unseren erotischen Abenteuer berichten sollen. Und zwar auch dann, wenn die ganze Angelegenheit auf Kosten unserer eigenen Grenzen und Bedürfnisse geht – so zumindest mein Eindruck

Plädoyer für schamlose Prüderie

Wenn ich einen Schritt zurücktrete, in mich hineinhorche und mental bewusst von gesellschaftlichen Forderungen distanziere, komme ich zu dem Schluss, dass echte sexuelle Freiheit sich nur auf der Basis von Selbstbestimmung entwickeln kann. Vielleicht also lebe ich meine ganz persönliche sexuelle Freiheit bereits voll aus – allein durch die Entscheidung, mich an meinen Bedürfnissen statt an Normen zu orientieren. Und ist das nicht wahrhafter Feminismus? Dafür einzutreten, dass jede Person (auch ich) ihre Sexualität so gehemmt oder ungehemmt ausleben kann, wie sie möchte* – und zwar ohne sich dafür schämen zu müssen? Mein neuer Vorsatz lautet also, fortan ganz feministisch und schamlos für mich und meine Prüderie einzustehen.

* natürlich unter der Prämisse, dass niemand anderes dabei zu Schaden kommt.


FEMINISM FOR EVERYONE



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